Thomas Manns 'großer Goethe'
Kurz, bevor Thomas Mann im März 1919 die durch den Ersten Weltkrieg und Werke wie die Betrachtungen eines Unpolitischen und die beiden Idyllen Herr und Hund und Gesang vom Kindchen unterbrochene Arbeit am Zauberberg wieder aufnahm, hatte er sinniert: „Wie daheim fühle ich mich der Goethe’schen Sphäre immer wieder, wie beglückt und stimuliert sie mich“ (Tb. 26.02.1919).
Nicht nur parallel war Mann in den 1920er-Jahren mit dem Goethe-Projekt Goethe und Tolstoi beschäftigt, aus dem 1921 ein Vortrag und der 1925 erschienene Essay hervorgingen: „Die ganze Unternehmung“, konstatiert der Kommentar der Großen kommentierten Frankfurter Ausgabe, „verließ nicht eigentlich die Sphäre des Zauberberg“ (GKFA 5.2, 38). Mann selbst erstaunte nach der Lektüre in Wilhelm Meisters Wanderjahren am 26. Juli 1921 „über die eigentlich Goethe’sche Sphäre des ‚Zbg.‘ Der Vortrag [über Goethe und Tolstoi] wird auf diese Weise ein reines, vollständiges Gegenstück zum Roman.“ (Tb. 26.07.1921)
Dass Goethe für Thomas Mann eine seiner wichtigsten Bezugsgrößen war, schon vor, auch während und nach dem Abschluss der Arbeit am Zauberberg, bezeugen materiell die vielen verschiedenen Ausgaben, in denen sich Goethes Texte und Texte über Goethe aus Manns Besitz erhalten haben. Während sich die meisten davon heute in der Nachlassbibliothek im Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich befinden, steht die Weimarer, auch sogenannte Sophien-Ausgabe seit 2019 wieder an Thomas Manns Adresse in Pacific Palisades.
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Die 133 Bände, herausgegeben zwischen 1889 und 1896 im Auftrag der Großherzogin Sophie von Sachsen, der Erbin von Goethes schriftlichem Nachlass, waren im Frühjahr 1937 ein Geschenk von Manns Schwiegermutter Hedwig Pringsheim. Mann notierte dazu im Tagebuch: „Einzelne Bände in schlechtem Zustande und reparaturbedürftig. Aber ein großartiger Besitz“ (Tb. 5.3.1937).
Die Exemplare, so beschreibt sie der Literaturwissenschaftler Stefan Keppler-Tasaki, „kamen in einheitlichen Einbänden des Münchner Buchbinders Fritz Gähr mit rotbraunem Halbfranzband und goldgeprägtem Rückentitel (Goethes Werke, Bandzahl, Bandtitel). Der Rücken ist durch fünf Zierbünde und vier identische, ebenfalls goldgeprägte Lilienornamente gegliedert. Deckel und Vorsatz sind mit Marmorpapier überzogen. Kopfgoldschnitt und rote Lesebändchen ergänzen die erstklassige Ausstattung, die Thomas Manns Lebensniveau entsprechen sollte“ (K.-T., 204).
Der „große Goethe“, so im Tagebuch Manns wiederholte Bezeichnung der Sophien-Ausgabe, begleitete ihn auf fast allen Stationen seines Exils, aus der Schweiz in die USA und wieder zurück, wie Keppler-Tasaki nachgezeichnet hat. Sie stiftete „Lebenskontinuität und schirmte das Heim gegen den Widersinn der Geschichte ab. […] Nach dem Tod Thomas Manns 1955 ging das schwere Gut in den Besitz des jüngsten Sohnes Michael über, der damit zum Germanistik-Studium nach Boston aufbrach“ (K.-T., 205 ff.). Aus Kilchberg bei Zürich reisten die Bände einmal mehr nach Übersee.
Als 2007 Thomas Manns Enkel Frido Mann, damals selbst am Zürichsee lebend, den ‚großen Goethe‘ erbte, wollte er ihn nicht erneut „auf Atlantikfahrt schicken“, sondern schenkte ihn einem „engen Freund seines Vaters, dem Mediävisten Frederic Tubach. […] Frederic und Sally Patterson Tubach spendeten den Buchschatz schließlich an das 2018 eröffnete Thomas Mann House Los Angeles“ (K.-T., S. 206). Am 8. Oktober 2019 wurde er im Rahmen der Veranstaltung „Goethe’s Homecoming“ feierlich übergeben.
Das Buddenbrookhaus in Lübeck erhielt im Jahr 2021 als Schenkung eine identische Ausgabe von Goethes Werken, welche seitdem das Büro der Museumsdirektorin ziert.
Thomas Manns originale Bände stehen im Thomas Mann House heute zentral an der Hauptwand von Manns früherem Arbeitszimmer, „virtuell im Rücken des Schriftstellers, den man auf Fotos im Raum noch an seinem Schreibtisch sitzen sieht“ (K.-T., S. 206).
Literatur
Stefan Keppler-Tasaki: Goethe in Kalifornien. Thomas Mann und die Weimarer Ausgabe. In: Goethe-Jahrbuch 136, 2019, S. 199–213
Hedwig Pringsheim: Mein Nachrichtendienst. Briefe an Katia Mann 1933–1941. Hrsg. von Dirk Heißerer, Göttingen 2011