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Thomas Manns kalifornischer Flügel

Enkel Frido Mann erzählt die faszinierende Geschichte des Instruments, das eine entscheidende Rolle bei der Entstehung von Thomas Manns Exilwerk Doctor Faustus spielte. 1944 im kalifornischen Exil angeschafft, unterrichtete Manns musikalischer Berater Theodor W. Adorno den Autor bei seinen Recherchen zum Musikroman auf dem „Baby Grand Piano“ der Marke Wheelock. Doch auch der renommierte Dirigent und Komponist Bruno Walter spielte auf dem Instrument. Frido Mann berichtet von seinen Erinnerungen und Erfahrungen mit einem besonderen Klavier, das seit 2021 wieder im Wohnzimmer des Thomas Mann House im San Remo Drive steht. 

Original erschienen in „Das Thomas Mann House – Politischer Denkort am Pazifik“ (Wallstein, 2023). 

Frido Mann
Der Flügel meines Großvaters

 

»Im Zusammenhang mit dem schönen, gleichsam erbarmungslosen Lebensrhythmus, den mein Vater besaß, und der uns gewissermaßen fortan trug, stand die Musik […]. Sein Verhältnis zur Musik war zugleich passiv und bemüht, leidend und kämpferisch – es war ein Einbeziehen, Einverleiben der Musik in seine Kunst, sein Leben.«

So urteilt Thomas Manns Tochter Monika, meine Tante, in ihren Erinnerungen. Dies trifft für Thomas Mann während seines kalifornischen Exils in Pacific Palisades in besonderer Weise zu, als er dort zwischen Mai 1943 und Januar 1947 seinen Musikerroman Doktor Faustus schrieb. Fast jeder Tag, der dort für meinen Großvater mit der Arbeit an diesem Werk begann, endete mit dem gemeinsamen Hören einiger seiner Schellackplatten aus dem Plattenschrank in unserem living room. Thomas Mann selbst hatte als junger Mensch zeitweilig die Geige gespielt. Zwei der drei jüngeren seiner sechs Kinder verlegten sich auf das Klavierspiel, mein Vater Michael als der einzige Berufsmusiker in der Familie war Bratschist. Aber alle Kinder und auch meine Großmutter Katia teilten mit dem pater familias dessen intensives Verhältnis zur Musik. Seine einzige aktive Beschäftigung mit Musik bestand bis ins hohe Alter – auch in Pacific Palisades – darin, gelegentlich am Flügel zu improvisieren. 

Thomas Mann aufgestützt auf das Piano im Gespräch mit dem Pianisten Bruno Walter, im Hintergrund Katia Mann mit Lotte Walter und Klaus Mann.
Thomas Mann aufgestützt auf das Piano im Gespräch mit dem Pianisten Bruno Walter, im Hintergrund Katia Mann mit Lotte Walter und Klaus Mann, ca. 1947 (ETH-Bibliothek Zürich, Thomas-Mann-Archiv / Fotograf: Unbekannt / TMA_3255)

 

Umso erstaunlicher mutet es an, dass der heute aus diesem Haus nicht mehr weg zu denkende, immer beharrlich wenige Meter von Thomas Manns Arbeitszimmer stehende Stutz-Flügel, ein Wheelock Baby Grand Piano GX-165, erst im Frühjahr 1944 angeschafft wurde. Zu dessen Kauf im Februar für 750 Dollar wurden meine Eltern in San Francisco beauftragt, wo mein Vater Mitglied des dortigen Symphony Orchestra war. Am 12. März 1944, so notiert Thomas Mann im Tagebuch, wurde das zwei Tage vorher im living room aufgestellte Instrument von dem Komponisten Eugene (Jenő) Zádor eingeweiht, der zur besonderen Freude meines Großvaters seine eigene »kleine Joseph-Composition für Orchester auf dem neuen Klavier vorspielte«, welche am 9. Dezember 1943 in Chicago uraufgeführt worden war.

Dieser Flügel war im Unterschied zu wahrscheinlich vielen anderen Pianos in vor allem europäischen Herrschaftshäusern nie als Prestige- und Vorzeigeobjekt gedacht gewesen, sondern fungierte von Anfang an als ausgesprochenes Familieninstrument. Auch diente es meinem Großvater, insbesondere in den Anfangsjahren seiner Arbeit an Doktor Faustus, dem Erkenntnisgewinn. So finden sich im Lauf des Sommers 1944 allein schon vier Tagebucheintragungen Thomas Manns mit Hinweisen auf sein eigenes improvisatives Spiel auf dem Flügel. Am 18. Juni notiert er: »Im Abendkonzert Vorspiel u. Liebestod. Auf dem Flügel etwas mitgespielt.« Am 11. August: »Klavier gespielt. Verliebt in die Modulation von F nach D dur mit dem cis oder des als Übergangston.« Am 14. September schreibt er: »Am Klavier meiner Zärtlichkeit für chromatische Durchgangstöne nachgehangen.« Und dann noch nach dem Hören der Schlussszene von Richard Wagners Das Rheingold am 28. September: »Die Dreiklang-Welt des Ringes ist im Grunde meine musikalische Heimat. / Und doch werde ich am Klavier des Tristan-Akkordes nicht satt.« Ansonsten wurde das Instrument hauptsächlich von engeren Freunden, musikalisch literarischen Weggefährten und Musiker-Familienmitgliedern bespielt. So trug Thomas Manns musikalischer Berater Theodor W. Adorno im selben Sommer während einer Gedichte-Lesung Thomas Manns im Zusammenhang mit Doktor Faustus kleine Klavierstücke von Arnold Schönberg und eigene Liederkompositionen nach Georg Trakl und Stefan George vor. Nach dem Sommer 1944 nahm die Anfangsbegeisterung für den Flügel merklich ab. Erst nach Kriegsende wurde der Flügel wieder öfters bespielt, im August 1945 zwei Mal von Bruno Walter und bald später mit Klaviertrios von Schubert und anderem (mit einem »Pianist X«), ein andermal musizierten mein Vater und einer seiner Freunde am Flügel. Danach wurden die Pausen immer größer. Ein Einschnitt war Thomas Manns Krebsoperation im Frühjahr 1946, dann ab April 1947 seine jeweils monatelangen Europareisen, die er fast jeden Sommer bis zum Umzug 1952 unternahm. Verzeichnet sind dann ein Konzertabend mit Bruno Walter im Sommer 1946, 1947 wieder ein Musizieren meines Vaters auf seiner Bratsche zusammen mit seinem Onkel Klaus Pringsheim und einmal mit Yaltah Menuhin am Flügel.

Das Instrument im Thomas Mann House Los Angeles. Foto: Clara Tang, Mai 2024

 

Eine der letzten in seinem Tagebuch erwähnten Klavierquartett- und Quintett-Soirées mit dem bekannten Pianisten Ingold Dahl findet im Sommer 1948 statt, dem einzigen Sommer ohne eine Europareise vor der endgültigen Übersiedlung in die Schweiz. Zu Silvester 1948 folgt im Kreis der Familie ein weiteres Konzert meines Vaters zusammen mit seinem Onkel. Danach scheint der Flügel bis zum Auszug aus Pacific Palisades im Frühjahr 1952 wie verwaist in der Ecke zu stehen. Thomas Mann ist von seinen zunehmenden Belastungen durch die ihn quälende Kommunistenjagd seitens McCarthys Komitee für unamerikanische Umtriebe so absorbiert, dass er für seinen Flügel keinen Raum mehr zu haben scheint. Einzig im Januar 1952, fünf Monate bevor er Pacific Palisades endgültig verlässt, berichtet mein Großvater in seinem Tagebuch von einer Wiedergabe einer Schubert-Klaviersonate durch den deutschen Pianisten Wolfgang Rebner, der sich dann knapp zwei Jahre später von Florenz aus mit meinem Vater als dessen Klavierbegleiter auf Konzerttournee begeben sollte.

Der Flügel gelangte schließlich nach einigen Umwegen im April 1954 in das in der Schweiz neu bezogene Haus in Kilchberg am Zürichsee, Thomas Manns letzte Adresse. Dort stand er in der Diele im Erdgeschoss. Am Pfingstsonntag, dem 79. Geburtstag des Hausherrn, spielten mein Vater und ich ihm eine Violinsonate von Mozart vor: »gar nicht leicht, sehr glücklich«, und ein Jahr später am 2. Juli 1955, unmittelbar vor einer Reise zur holländischen Königin, die seine letzte werden sollte, ist vermerkt: »Frido spielte uns gestern mit seinem Vater, der am Klavier die Violine markierte, den 1. Satz seiner Sonate vor.«

Als ich nach dem Tod meines Großvaters bei meiner Großmutter in Kilchberg einzog und in Zürich das Gymnasium besuchte, stand der Flügel fast ausschließlich mir zur Verfügung. Vor allem dann bis zum Abschluss meines Musikstudiums am Zürcher Konservatorium übte ich in Kilchberg auf dem ehemaligen kalifornischen Flügel, und auch danach, für meine Nebentätigkeit an der Zürcher Oper, erarbeitete ich mir alles auf diesem Instrument.

1980, nach dem Tod meiner Großmutter Katia, verfügte mein Onkel Golo als damaliger Nachlassverwalter, dass der Flügel zu mir nach Münster gehen sollte. Seitdem hat er mich und mein musikalisches Leben über jeden Ortswechsel hinweg durchgehend bis 2019 begleitet. Dann veranlasste ich als Schenkung an die Bundesregierung den Transport meines früher Thomas Manns gehörigen Flügels von München zurück in das Haus in Pacific Palisades, genau an denselben Platz im living room, wo er immer gestanden hatte. Dankenswerterweise ließ der das Haus verwaltende Verein mit der zusätzlichen Unterstützung durch die Berthold Leibinger Stiftung den Flügel von Grund auf renovieren.

Der Flügel nach der Restaurierung in Pacific Palisades, 2021, Foto: Benno Herz

 

Ein besonderer Glücksfall war, dass für die zweite Einweihung des geschichtsträchtigen Instruments im Oktober 2021 der renommierte Pianist Igor Levit gewonnen werden konnte. Der Grund für unsere Entscheidung war nicht nur die hohe künstlerische Reputation dieses begnadeten Musikers. Als genauso wichtig erschien uns sein mutiges öffentliches Eintreten gegen jede Form von Hass sowie rassistischer und nationalistischer Ausgrenzung von Menschen in unserer Gesellschaft. Ebenso wie Thomas Mann verbindet er seine Kunst mit einem humanistisch-demokratischen Wertebewusstsein im Sinne eines konsequenten Einstehens für die Unantastbarkeit der Würde des Menschen.

YouTube-Video: Am 26. März 2024 feierte das Thomas Mann House Los Angeles „100 Jahre“ „Der Zauberberg.“ Während der Veranstaltung wurden Stücke von Claude Debussy und Franz Schubert auf Mann’s Klavier dargeboten.

 

Während der Flügel in neuem Glanz auf seine zweite Einweihung wartete, wuchs in mir der Wunsch, bei diesem Konzertprogramm Beethovens letzte Klaviersonate Opus 111 erklingen zu lassen. Zum einen hatte Igor Levit kürzlich alle 32 Beethoven-Klaviersonaten eingespielt, zum anderen hatte dieses Werk eine besondere Bedeutung im achten Kapitel des Doktor Faustus. Dort führt der deutsch-amerikanische Musiker Wendell Kretschmar profunde Analysen des Opus 111 aus, auf Grundlage der zentralen Gedanken zu dieser Sonate in Theodor W. Adornos Philosophie der neuen Musik. Ein herausragendes Thema dieses Kapitels ist der großangelegte Versuch, Musik in Sprache zu übersetzen und dann von dieser wieder zurück in Musik. Das Kapitel beginnt mit der späten Schaffensperiode Beethovens, insbesondere mit dieser letzten Klaviersonate. Mit ihr scheint Beethoven von seiner revolutionären, leidenschaftlich expressiven Ausdrucksweise in eine sein Ich und sein Selbst geradezu verleugnende, fast immaterielle, geisterhafte und mystische Offenlegung seiner intimsten inneren Prozesse zurückzugehen. Das zeigt sich besonders im häufigen Wechsel zwischen erschreckender Schroffheit und ergreifender Zartheit durch das ganze monumentale Werk hindurch.

Früher hatte ich geglaubt, dass nur ältere, sehr erfahrene Musikerinnen und Musiker in der Lage seien, dieses große Werk von Beethoven wirklich zu verstehen und angemessen wiederzugeben. Durch Igor Levits Aufnahme des Opus 111 war meine Meinung jedoch gründlich widerlegt worden. Umso bewegender war dieser Abend also für mich, als besonderer Bewunderer von Levits Aufnahme des Opus 111, ihn diese Sonate erstmals live spielen zu hören: auf dem nach fast 70 Jahren heimgekehrten Flügel meines Großvaters, im living room meiner Kindheit.